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Rezension

Schule verantworten 02/2021

»Werteerziehung« ist ein sperriges Wort. Der mitschwingende strenge Unterton lässt fast vergessen, dass es sich dabei um eine reflexive Bildungspraxis handelt. Für eine solche aber ist die Schule der zentrale Ort.
Im Allgemeinen Bildungsziel etwa des Lehrplans der österreichischen Volksschule wird, mit Bezug auf § 2 Schulorganisationsgesetzes (SchOG), bereits im ersten Satz deren Mitwirkung »an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen«(1) als Aufgabe formuliert. Im dritten Absatz werden diese Werte genauer benannt. Es lohnt sich, uns diese Werte vor Augen zu führen, um »Fragen der Werteerziehung mit Literatur«, wie sie in dem vorzustellenden Sammelband aufgeworfen werden, reflexiv einordnen zu können:
Im österreichischen Lehrplan der Allgemeinbildenden Höheren Schule wird ebenfalls die »Vermittlung von Werten« als gesetzlicher Auftrag betont, welche dann im Abschnitt »Leitvorstellungen« in zweierlei Kontexten von »ethischen und moralischen Werten« ausgeführt werden: mit Blick auf »Akzeptanz, Respekt, gegenseitige Achtung und Diskursfähigkeit unter Bezugnahme auf die individuellen Grundrechte« und der Benennung folgender Aspekte als »wichtige Werte«: »Die Würde jedes Menschen, seine Freiheit und Integrität, die Gleichheit aller Menschen sowie die Solidarität mit den Schwachen und am Rande Stehenden«.(2) Der aus dem Lehrplan der Volksschule abgebildete Satz findet sich in ähnlicher Formulierung in den Ausführungen zum Bildungsbereich Mensch und Gesellschaft wieder.

Mensch und Gesellschaft
Mensch und Gesellschaft als Bildungsbereich und als kulturelles Kernthema sind das Stichwort, wenn es um die Rolle geht, die literarische Texte bei der Wertebildung spielen können. In diesem Sinne findet sich auch die Übereinstimmung mit den Lehrplänen des Unterrichtsfaches Deutsch. Die Herausgeberinnen des hier vorgestellten Sammelbandes, Germanistinnen an Universitäten in Köln, München und Siegen, weisen in ihrem Vorwort auf den »erweiterten ›Wert des Lesens‹« hin, mit seiner literarästhetischen und moralisch-ethischen Dimension: »Im Kopf der Lesenden entstehen vielfältige Weltentwürfe, die nicht nur Wissensbestände, sondern auch Werthaltungen und Wahrnehmungsmuster zur Disposition stellen.« (S. 9) Die beiden Dimensionen im Deutschunterricht in Verbindung zu bringen, darin besteht die Herausforderung, mit der sich die Beiträge des Bandes konfrontiert sehen.
Die zwölf Beiträge, aufgeteilt auf fünf thematische Abschnitte, stellen anhand von explizierenden Textbeispielen Möglichkeiten der »konzeptionelle[n] Gestaltung von Bildungsprozessen« (S. 11) vor, die Literatur als »Prüfstein für den Fortbestand einer pluralistischen Gesellschaft« sehen. Die von Sabine Anselm formulierte »Erziehung zur Wertreflexionskompetenz« soll »die Jugendlichen in ihrer individuellen Persönlichkeitsentwicklung [...] unterstützen und im Blick auf die Bewältigung der Anforderungen der Zukunft [...] ermutigen« (S. 11) Die analytisch-reflektierende bzw. produktions- und handlungsorientierte Auseinandersetzung mit literarischen Texten vermag, so die Prämisse des Bandes, »die Reflexion ethischer Wertvorstellungen befördern« (S. 9f.). Diese steht mit ihrer Fokussierung der »in Erzählungen verhandelten Werte und deren Interpretation« (S. 10) über einer (mitunter zu starken) Didaktisierung.
Der Blick ist dabei keineswegs nur auf die dystopische/utopische Zukunft gerichtet. Im ersten Abschnitt unter dem Thema »Literatur und Lesen als Medien der Werteerziehung« zeigen Jan Rupp und Bettina Wild in ihrem sehr lesenswerten Beitrag über »Literarische Inszenierungen der Schlüsselkompetenz Lesen« anhand einer Fülle für den Unterricht geeigneter Beispiele, wie in Literatur der Wert des Lesens selbst inszeniert wird. Simon Zebhauser will im zweiten Beitrag das didaktische Potenzial dystopischer Texte »als ein Zukunfts-Laboratorium« (S. 57) anhand kanonischer und aktueller Texte ausloten und spannt sie dafür in ein komplexes struktur-funktionales Modell. »Demokratische Grundwertebildung im Literaturunterricht« stellt Tabea Kretschmann ausgehend vom deutschen Grundgesetz umfassend und mittels für den Unterricht gut nutzbaren Leitfragen vor.
Im zweiten Abschnitt zum Thema »Gesellschaftliche Erwartungen – soziale Werte« »wird das Wirkpotenzial von Gegenwartsliteratur erörtert, einen Wertewandel zu initiieren, der letzten Endes zu einem veränderten Habitus der Rezipient_innen führen kann« (S. 12). »Vaterfiguren und Ge¬schlechterrollen in der deutschsprachigen inter-/transkulturellen Gegenwartsliteratur« gelten Monika Riedels Analysen insbesondere von Familienromanen im Kontext »sich wandelnder geschlechtsbezogener Rollenbilder« (S. 97). Den »Umgang mit sexueller Vielfalt in (aktuellen) Jugend¬romanen« und alternative Lebensmodelle thematisiert Jana Mikota. Sie stellt literarische Beispiele für einen identitätsorientierten Literaturunterricht vor, der »die Auseinandersetzung mit Geschlechtsidentität« (S. 135) berücksichtigt.

Critical Literacy und Wertreflexionskompetenz
»Offenheit für das Außergewöhnliche« thematisiert der dritte Abschnitt des Sammelbandes. David Almonds Roman Zeit des Mondes über den Zwischenzustand zwischen Leben und Tod steht im Zentrum der exemplarischen und nachhaltig beeindruckenden Analyse seines didaktischen Potenzials durch Ute Barbara Schilly am Anfang dieses Abschnitts. Sie hebt die Möglichkeiten interkulturellen Lernens hervor, mit Blick auf »das bewusste Trennen von Wahrnehmen und Bewerten« (S. 161). Jenny Erpenbecks »Flucht-Roman Gehen, ging, gegangen als Gegenstand einer wissenspoetologisch orientierten Literaturdidaktik« versucht Wiebke Dannecker mit dem Fokus »auf die Rolle der Literatur als ›Wissensvermittlerin‹« (S. 167) vorzustellen. Indem sie »Literatur als Reflexionsmoment« versteht, stellt sie »Critical Literacy als Zielperspektive einer wissenspoetologisch orientierten Literaturdidaktik« (S. 174) vor, vermag aber diese Konzeption mit ihren verschiedenen Bezugsfeldern nicht ganz überzeugend durch die Romananalyse zu belegen. Das Beispiel einer mit Studierenden durchgeführten qualitativ-empirischen Studie, deren Ergebnisse »keineswegs repräsentativ sind« und eine abzuleitende Hypothese lediglich »andeuten« (S. 178), zeigt zwar die Möglichkeit partizipativer hochschuldidaktischer Elemente auf, gleichzeitig aber auch die Begrenztheit empiri¬scher Forschung im Kontext der Literaturdidaktik.
Im folgenden Abschnitt über »Plurale Wertewelten« behandelt Joachim Schulze-Bergmann ein komplexes zeitgeschichtliches Thema, den palästinensisch-israelischen Konflikt. Er wählt dafür einen dokumentarischen Roman, der die »jugendlichen Lesenden [...] gegenüber der historischen Situation dieses Konfliktes in eine Beobachterperspektive treten« (S. 193) lässt – und sich auch für einen wissenspoetologischen Zugang anböte, der hier jedoch nicht gewählt wird. Vielmehr stellt er ein produktives schreibdidaktisches Lehr-Lernarrangement in Anlehnung an Georg Linds (Moral ist lehrbar, 2015) Schreibregeln für Dilemma-Situationen vor, das für Demokratiebildung fruchtbar gemacht werden kann.
Vor Gewalteskalation warnt ein Jugendroman mittels expliziter Gewaltdarstellungen, den Katha¬rina Goubeaud kritisch anhand ausgewählter Textstellen analysiert, unter Hinweis auf die Herausforderung, welche die Auseinandersetzung damit im Kontext Schule darstellt. Sie spricht dennoch eine eindeutige Empfehlung dafür aus, um »Jugendliche für Werte, Recht und Moral zu sensibilisieren, ihr Verständnis von Gewalt und Schuld zu definieren und zu überdenken, ihre Wahrneh¬mung für außer Kontrolle geratendes und grenzüberschreitendes Verhalten zu schulen und ihnen einen besseren Zugang zu dem in der Literatur behandelten Thema zu ermöglichen« (S. 223). Wie sich der Wertewandel »zwischen jüdischen Wurzeln und amerikanischem Traum« in der historischen Entwicklung der Comicfigur Superman spiegelt, stellt schließlich Janwillem Dubil dar.
Der letzte Abschnitt ist den exemplarischen Analysen von zwei Romanen gewidmet, die vielfach Eingang in den Literaturunterricht gefunden haben, Juli Zehs Dystopie Corpus Delicti und ihres Romans Unterleuten. Das Augenmerk gilt dabei der kritischen Analyse von dazu vorliegenden Lektüreschlüsseln und Lernszenarien unter dem Aspekt der Wertereflexion und entsprechenden alternativen literaturdidaktischen Zugängen.

Schulkultur als Kultur des Friedens
Der Sammelband, so lässt sich abschließend festhalten, weist eine Vielzahl an Perspektiven auf, die für »Werteerziehung mit Literatur« (S. 17) mit den eingangs zitierten allgemeinen Bildungszielen genutzt werden können. Besonders wertvoll sind zum einen die Beispielanalysen, womit eine Auswahl von literarischen Texten angeboten wird, die Impulse für Wertereflexion im Deutschunterricht geben können. Darüber hinaus zeigen die thematischen Schwerpunkte, dass sich auch Impulse für fächerübergreifendes, themenorientiertes Arbeiten ableiten lassen. Insgesamt macht der Sammelband deutlich, dass »›Werteerziehung‹ keineswegs Element einer gestrigen Pädagogik ist, sondern vielmehr im Zentrum einer auf Zukunft orientierten Schulkultur steht, die eine ›Kultur des Friedens‹(3) lebt.«
Carmen Sippl

Anmerkungen
(1) Lehrplan der Volksschule, Erster Teil, Allgemeines Bildungsziel, Stand: BGBl. II Nr. 368/2005, November 2005, https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/schulpraxis/lp/lp_vs.html [15.08.2021]
(2) Lehrplan der Allgemeinbildenden Höheren Schule, Erster Teil, Allgemeines Bildungsziel; https://www.bmbwf.gv.at-/Themen/schule/schulpraxis/lp/lp_ahs.html bzw. https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundes-normen&Gesetzesnummer=10008568 [15.08.2021]
(3) Christoph Wulf (2020). Bildung als Wissen vom Menschen im Anthropozän. Beltz Juventa. S. 232. – Vgl. den Leitsatz der UNESCO zur Umsetzung der Agenda 2030: »Building peace in the minds of men and women« (https://en.unesco.-org/70years/building_peace).

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Fragen der Werteerziehung mit Literatur
Anselm, Sabine/Grimm, Sieglinde/Wanning, Berbeli/Brune, Carlo/Dannecker, Wiebke/Dubil, Janwillem/Goubeaud, Katharina/Henke, Ina/Kretschmann, Tabea/Mikota, Jana/Riedel, Monika/Rupp, Jan/Schilly, Ute Barbara/Schulze-Bergmann, Joachim/Sperling, Alexander/Wild, Bettina/Zebhauser, Simon

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