Rezension
Archiv für Liturgiewissenschaft, Jahrgang 54, 2012
Der Aufsatzband zum 75. Geburtstag von Wilhelm Rothfuchs, der lange die Praktische Theologie an der Luth. Theologischen Hochschule Oberursel vertreten hat, nimmt mit Buße und Beichte einen Themenkreis in den Blick, der in den letzten Jahren immer wieder in der theologischen Diskussion auftaucht, in der Praxis der Gemeinde aber momentan eine geringe Relevanz besitzt. Entsprechend Ausrichtung und Trägerschaft der Hochschule bilden Mitglieder des Lehrkörpers und der SELK den Großteil der Autorenschaft. Der Band ist in zwei große Abschnitte unterteilt. Ein erster Teil sammelt »Erwägungen zu Beichte und Buße in Bibel, Bekenntnis, Gottesdienst, Verkündigung, Seelsorge und Mission« und versucht, sich dem Themenbereich vom Ansatz unterschiedlicher theologischer Disziplinen zu nähern; exemplarisch sollen einige Beiträge genannt werden. Achim BEHRENS, »Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz«. Beobachtungen zu Psalm 51 (15—29), macht anhand der Exegese des Psalms deutlich, dass Bußtheologie immer auch Gnadentheologie ist. Der Beter erwartet eine Entsündigung durch Gott, die durch den Akt der Absolution in Form einer Waschung Realität wird. Er erbittet eine Erneuerung der ganzen Person im Akt einer Neuschöpfung des Menschen, aus der Bekenntnis und Gotteslob resultieren. — Volker STOLLE, Rettender Beistand und Vergebung. Absolution nach dem Matthäusevangelium (30—42), stellt die soteriologische Perspektive im Matthäus-Evangelium dar, ausgehend von Mt 1 und dem Namen Jesus. Absolution ist nicht allein ein Weg, von Belastungen der eigenen Vergangenheit befreit zu werden, sondern auch »rettende Hilfe«, die zukunftsfähiges Leben in der Gemeinschaft mit Gott in Jesus Christus ermöglicht. — Jorg Christian SALZMANN, »Und vergib uns unsere Schuld«. Überlegungen zur Sündenvergebung nach dem Neuen Testament und zum Beichtgottesdienst (43—57), nimmt Mt 16,19 und Joh 20,22b—23 in den Blick, die in luth. Beichtagenden als »Stiftungsworte« benannt werden. Die Textstellen zielten zunächst nicht auf die tägliche Buße und Reue der Christen, sondern die Binde- und Lösegewalt bezog sich grundlegend auf den Einlass in das Gottesreich. Da aber die den Boten Christi aufgetragene Verkündigung des Evangeliums immer auch Zuspruch der Vergebung darstellt, können die Stellen zurecht als grundlegende Schriftworte für die Vergebung der Sünden von Getauften dienen. — Eine systematische Einordnung versucht Werner KLÄN, Das »dritte Sakrament«. Beichte und Buße im Bekenntnis der lutherischen Kirche (58—76). Gerade Melanchthon hat die Buße als Sakrament im engeren Sinne eingestuft, da sie wie Taufe und Abendmahl ein Zeugnis der Gnade und Sündenvergebung ist. Es geht nach Luther um die Rückkehr zur grundlegenden Taufwirklichkeit, die nicht zuletzt in der Vergebungsbitte des Herrengebets täglich Gestalt gewinnt. — Peter Matthias KIEHL, Gemeinsam auf dem Weg zum Sakrament. Buße und Beichte im liturgischen Vollzug der Gemeinde (77—88), stellt die unterschiedlichen Gottesdienstformen vor und bezieht besonders die Agenden des 20. Jh. ein. Unter anderem geht es um das richtige Verhältnis von Bußpredigt und gemeinsamer Beichte. Positiv verwiesen wird auf die Ausweitung der Bußgottesdienste in der röm. Kirche sowie auf die ungewöhnliche Stellung des Bußaktes in der Eucharistiefeier gemäß dem Messbuch für den Kongo. — Zwei Beiträge setzen besondere Akzente: Hans Peter MAHLKE, Schuld und Vergebung bei Kindern (99—113), macht darauf aufmerksam, dass die Kategorie der »Schuld« für Kinder oft bedeutungslos bleibt, wenn diese anhand einer von außen kommenden Norm des Tuns und Lassens entwickelt wird. Einen Zugang eröffnen am ehesten Vereinbarungen zwischen Kind und Erwachsenen, an die beide Seiten gebunden sind und die es immer wieder zu erneuern und zu bekräftigen gilt. Vermeiden sollen Erziehende zu direktives Handeln. — Hartwig F. HARMS, Sündenbekenntnis und Vergebung in einer schamorientierten Kultur (114—133), stellt anhand eigener Erfahrungen als Missionar in Äthiopien heraus, dass viele Kulturen das für die westliche Theologie so wichtige Verständnis von Sünde und Vergehen als persönliche Schuld nicht teilen, die auf dem aus dem röm. Denken resultierenden Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden aufbaut. Außereurop. Kulturen sind viel stärker scham- als schuldorientiert. In ihnen steht eher die Ehre im Mittelpunkt, so dass Vergehen Scham (das englische »shame« beinhaltet sowohl Scham wie auch Schande) auslöst, die nur durch die Beteiligung des Geschädigten aufgehoben werden kann. In Äthiopien hat Vf. fast nie persönliche Beichten, wohl aber das Bekenntnis von (nicht näher benannten) Vergehen im Gemeindegottesdienst erlebt, für die der Einzelne um Verzeihung und Fürbitte bittet, die anschließend von der Gemeinde murmelnd gewährt wird. Entsprechend schwierig ist es etwa bei Bibelübersetzungen, die westlichen Schuldkategorien in die jeweiligen Sprachen zu übertragen. In der Verkündigung steht zudem der auferstandene Christus Victor im Mittelpunkt, während eine auf die Rechtfertigungslehre konzentrierte Christologie nicht tragen kann. Abschließend fragt Vf., ob nicht auch der veränderte Umgang mit Buße in unseren westlichen Gesellschaften mit einer Verlagerung zu einer Schamkultur einhergeht. — Überleitende Funktion hat der Beitrag Christoph BARNBROCK, Die Beichtansprache. Homiletische Überlegungen zu einer selten gewordenen Predigtgattung (176—193), der sich mit besonderen Herausforderungen dieser Predigtform befasst — speziell, die eigentliche Beichte nicht vorwegzunehmen. Auch wenn die Beichtansprache zunächst eine Kasualpredigt ist, rät Vf., an bestimmten Sonn- und Feiertagen, besonders am Karfreitag und am Buß- und Bettag, den Hauptgottesdienst als Beichtgottesdienst mit Absolution und Handauflegung zu feiern. — Der zweite Buchteil dokumentiert »Bußpredigten und Beichtansprachen — eine Auswahl aus dem Bereich selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen« von 17 Autoren, mehrere für den Buß- und Bettag. — Beim Lesen hat man nicht selten den Eindruck, dass hier eine Idee und ein Anspruch artikuliert werden, die theologisch begründet sind, aber in der gottesdienstlichen Realität der Gemeinden nicht eingeholt werden. Die Probleme scheinen nicht unähnlich denen in der röm.-kath. Kirche zu sein. Weiterführendes Potenzial haben gerade die beiden Beiträge, die für eine Zurückhaltung bei der Schuldkategorie plädieren und stärker die Beziehungsdimension in den Blick nehmen.
Friedrich Lurz